Stehen Ihnen bei diesem Satz auch die Haare zu Berg? Leider hält sich das Nichts-zu-verbergen-Argument schon viel zu lange hartnäckig und verhindert oftmals eine konstruktive Diskussion über Privatsphäreschutz im Internet. Höchste Zeit also, damit aufzuräumen.
Jede Person, die sich für Privatsphäreschutz im Internet ausspricht, kennt es: Auf Argumente, weshalb Massenüberwachung nicht nur nicht effektiv, sondern auch äusserst gefährlich ist, wird häufig geantwortet mit «Sollen sie doch meine Chats anschauen, ich habe nichts zu verbergen». So weit verbreitet dieses Argument (immer noch!) zu sein scheint, so unschlüssig ist es auch.
Einer der Gründe, weshalb viele Menschen immer noch so reagieren, könnte sein, dass Privatsphäre im Internet sehr abstrakt ist. In der physischen Welt hätten die meisten Menschen wahrscheinlich ein Problem damit, wenn der Postbote ihre Briefe öffnen und lesen würde, ganz zu schweigen davon, wenn die Regierung Kameras in ihren Schlafzimmern installieren würde.
Denn auch ohne in illegale Aktivitäten verwickelt zu sein, gibt es Orte und Situationen, in die andere keine Einsicht haben sollen. Und zwar nicht, weil wir etwas zu verstecken hätten, sondern weil wir gewisse Teile unseres Lebens einfach lieber für uns behalten. Aus diesem Grund schliessen wir beim Gang auf die Toilette auch die Tür oder geben niemandem unser Tagebuch zu lesen.
Dabei geht es vor allem darum, seine Freiheit zu schützen – die Freiheit, sich zu bewegen und zu leben, ohne überwacht zu werden. Das Problem: Für viele ist Freiheit so selbstverständlich, dass die Notwendigkeit, sie zu schützen, nicht gesehen wird.
Auf der einen Seite mögen Ihre Daten für Ihre Regierung im Moment zwar uninteressant sein, weil diese in erster Linie nach Kriminellen sucht. Ändert sich die Gesinnung der Regierung, können Ihre einstmals harmlosen Aussagen und Datenpunkte plötzlich als problematisch angesehen werden. (Das Nichts-zu-verbergen-Argument ist also nicht nur unüberlegt und kurzsichtig, sondern geht auch davon aus, dass die gegebenen sozialen Werte und Normen feststehen und sich niemals ändern werden.)
Auf der anderen Seite kann jemand, der alles über Sie weiss, Sie leicht manipulieren oder sogar erpressen. Im Internet sammeln grosse Konzerne die Daten ihrer Nutzer, werten diese aus konstruieren damit genaueste Profile, mit denen das Verhalten der Nutzer immer präziser vorausgesagt und beeinflusst werden kann.
Dabei mögen einzelne Informationen wie das Geburtsdatum oder ein Hobby harmlos erscheinen und nicht viel aussagen. Zusammen mit tausenden anderen Datenpunkten, die im Hintergrund gesammelt und mit Daten von anderen Apps oder Websites kombiniert werden, lässt sich allerdings ein ziemlich genaues Bild einer Person zeichnen. Hinzu kommt, dass KI diese riesige Menge an Datenpunkten so interpretieren kann, wie es bisher nicht möglich war, und vermutlich Informationen ableiten kann, die die Person selbst nie teilen würde.
Das Missbrauchspotenzial ist riesig: So könnten nicht nur Grosskonzerne und Hacker diese Daten ausnutzen, sondern theoretisch auch staatliche Akteure, die mit gezielter Desinformation die öffentliche Meinung beeinflussen wollen. Ohne vertrauliche Kommunikation ist eine freie Meinungsbildung nicht mehr möglich, wodurch letztendlich auch die Demokratie unterwandert würde.
Im Umkehrschluss bedeutet das Nichts-zu-verbergen-Argument, dass man wahrscheinlich etwas Falsches getan hat, wenn man gewisse Teile des Lebens für sich behalten (also verbergen) will. Diese Folgerung ist jedoch nicht schlüssig: Auch wenn kriminelle Handlungen meist im Verborgenen erfolgen, heisst das nicht, dass alles, was verborgen bleibt, automatisch kriminell ist.
Beim Schutz der Privatsphäre geht es also nicht darum, Fehlverhalten zu verbergen oder illegale Aktivitäten zu verschleiern, sondern darum, die Entscheidungshoheit zu behalten, Ihre Daten und die Freiheit zu schützen sowie die Macht zu begrenzen, die andere über Sie haben. Es geht darum, die Kontrolle über die eigenen Daten zu behalten, selbst zu entscheiden, wie sie genutzt werden, und sie zurückzufordern, wenn man das möchte. Denn auch wenn Sie nichts zu verbergen haben, haben Sie sehr wohl etwas zu schützen.